Geschichte
Im Stadtzentrum Kassels markiert am Beginn der Wilhelmshöher Allee der weithin sichtbare Turm das Hessische Landesmuseum (Abb. 1 und 2). Dieses ist nach einer kompletten Neugestaltung, wissenschaftlichen Neukonzeption sowie denkmalgerechten Instandsetzung seit November 2016 wieder für Besucher geöffnet (Abb. 1 und 2).
Das 1913 eingeweihte Bauwerk des Architekten Theodor Fischer (1862–1938) vereint die Sammlungen Vor- und Frühgeschichte, Angewandte Kunst und Volkskunde in einer landesgeschichtlich ausgerichteten Präsentation unter einem Dach. Erstmals ist ein Rundgang durch 300.000 Jahre (nord-)hessische Landes- und Kulturgeschichte möglich, der mit vielseitigen, teils überraschenden Exponaten abwechslungsreich inszeniert wird.
Auf drei Ausstellungsebenen mit jeweils rund 1000 Quadratmetern Fläche gibt das Museum einen Überblick über die kulturelle Entwicklung der Region von den Anfängen menschlicher Besiedelung Nordhessens bis in die Gegenwart. Neben der inhaltlichen Vernetzung der Sammlungen und Exponaten, die von vorgeschichtlichen Funden, über seltene Kostbarkeiten aus einstigem Landgrafenbesitz bis hin zu Klassikern der Alltagskultur reichen, können Besucher auch bauliche Neuerungen erleben: Erstmals ermöglicht eine Turmbesteigung den Ausblick über Kassel, die neugeschaffene Sonderausstellungsfläche verspricht spannende Wechselausstellungen und ein Schaudepot wird Kennern, Sammlern und Liebhabern das eingehende Studium von Depotobjekten ermöglichen.
Glas
Die Ausstellungsebenen „Aus der Schatzkammer der Geschichte“ (13.-19. Jh.) und „Mitten im Leben“ (19.-21. Jh.) präsentieren in ihren hochkarätig bestückten geschichtlichen Rundgängen unter anderem Meisterwerke der Kasseler Glassammlung (Abb. 3). Neben Werken aus den führenden Zentren der Glasherstellung Europas kommen dabei vor allem Gläser hessischer Produktion und Raritäten aus der landgräflichen Sammlung zum Zug. Hervorzuheben sind Fragmente mittelalterlicher Glasmalereien aus hessischen Kirchen, die den Bildersturm des 17. Jahrhunderts überlebt haben, eines der wenigen unbeschadet erhaltenen „Aleppo-Gläsern“ des 13. Jahrhunderts (Abb. 4), aber auch Waldglas aus den Glashütten Kaufunger Wald bei Kassel. Die qualitätvollen Fadengläser der Kasseler „Chrystallinglashütte“ (Abb. 5), einer Venezianerhütte, die nur von 1583 bis 1584 bestand, stellen eine besondere Kostbarkeit dar. In der Ausstellung werden sie neben den eleganten, italienisch beeinflussten Mundgläsern Landgraf Philipps des Großmütigen (1504–1567) und Landgraf Wilhelms des Weisen (1532–1592) präsentiert. Ersterer förderte die Ansiedlung des Gläsner-Bundes im Kaufunger Wald, letzterer die „Chrystallinglashütte“.
Scherzgläser in Tierform (Abb. 6) sind in der Ausstellung ebenso vertreten wie Gebrauchsgläser und kostbare, der fürstlichen Repräsentation und dem diplomatischen Geschenkverkehr dienende Objekte aus Glas, darunter Erzeugnisse der Glashütten im Reinhardswald.
Einen eigenen Schwerpunkt bildet die barocke Glasproduktion und –veredelung in der Altmündener Hütte sowie in der Kasseler Steinschleifmühle, die unter Christoph Labhart d.Ä. und Franz Gondelach ihre höchste Vollendung erreichte. Ein repräsentativer Querschnitt von Gläsern dieser am Hofe Landgraf Carls von Hessen-Kassel (1654–1730) tätigen Künstler sind im Themenraum „Vom Bodenschatz zur Luxusware“ zu sehen (Abb. 7). Auch Potsdamer Goldrubinglas, darunter Werke die vermutlich Gottfried Spiller für den Kasseler Hof schuf (Abb. 8) und die die Kasseler Glaskunst nachhaltig beeinflussten, sind hier ausgestellt. Eindrucksvoll ist der experimentelle Umgang mit Glas in Kassel, etwa die Pressglasreliefs mit Profilporträts (Abb. 9) oder die kleine Statuette eines sitzenden Mannes von Labhart, ebenfalls aus gepresstem, geschliffenem Glas (Abb. 10).
Die Glassammlung Landgraf Wilhelms VIII. (1682–1760 und dessen urkundlich belegtes, in Deutschland einzigartiges Glaskabinett boten den Anlass, die große Bandbreite der Kasseler Glassammlung vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in einer modernen Sammlungsvitrine vorzustellen (Abb. 11). Neben Schlangengläsern aus den Niederlanden (Abb. 12), Goldrubinglas, dünnwandigen, teils mit Diamantgravur versehenen Kristallgläsern, werden hier verschiedene Dekortechniken vorgestellt, etwa Gläser mit Schwarzlot-, Gold- oder Emailmalerei sowie Zwischengoldglas.
Erzeugnisse der Altmündener Hütte, die bis ins späte 18. Jahrhundert den Kasseler Hof versorgte, deren Glas aber auch an andere europäische Höfe geliefert wurde, spiegeln in den folgenden Räumen die Entwicklung der hessischen Glasmacherkunst, des sich wandelnden Dekors und der sich ändernden Anforderungen des Hofs wider. Die prachtvollen Pokale für die Landgrafen Friedrich II. (1720–1785) und Wilhelm IX. (1743–1821, Kf. seit 1803) von Heinrich Wilhelm Iselhorst, aber auch Glas der Empirezeit, das für Jérôme Bonaparte (1784–1860, reg. in Kassel 1807–1813) als König von Westphalen hergestellt wurde, sind in den letzten Räumen dieser Ausstellungsebene ausgestellt (Abb. 13).
Die Sammlung wurde ab 1962 systematisch um Glaskunst des Historismus, des Jugendstils und des 20. Jahrhunderts erweitert. Ein kleiner Bestandteil dieser umfangreichen Sammlung wird in der dritten Ebene „Mitten im Leben“ zusammen mit Einrichtungsgegenständen, anderen Kunstwerken und Kleidung aus dem 19. und 20. Jahrhundert präsentiert (Abb. 14), so auch Produkte der hessischen Glashütte Süßmuth (Abb. 15). Weitere Meisterwerke der Sammlung werden in der derzeit geschlossenen Designausstellung der Torwache, einem Nebengebäude des Landesmuseums verwahrt. Zu ihnen zählen Schöpfungen von Emile Gallé (Abb. 16), böhmische, französische, englische und venezianische Gläser.
Die neue Präsentation im Hessischen Landesmuseum ermöglicht in Zusammenschau mit zeitgenössischen kunsthandwerklichen Werken höchster Qualität einen Überblick über die Vielfalt der hessischen (und europäischen) Glaskunst vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Neben künstlerischen werden auch die wirtschaftsgeschichtlichen und politischen Dimensionen diese Handwerkszweigs beleuchtet, womit sich die Glasherstellung als bedeutender Wirtschaftszweig in die Landesgeschichte Hessens hervorragend einbettet.
(Elisabeth Burk, Antje Scherner)